
Höfische Liebe (Amour courtois), oder auch Minne, bezeichnet ein innovatives literarisches Genre der Lyrik des Hochmittelalters (1000–1300 n. Chr.), das die gesellschaftliche Stellung der Frau aufwertete und zentrale Motive des heutigen Liebesromans begründete. Diese Form der Dichtung stellte eine Dame in den Mittelpunkt: Sie war meist verheiratet, aber stets auf irgendeine Weise unerreichbar und wurde zum Ziel ritterlicher Verehrung, Dienstbarkeit und Selbstaufopferung. Vor der Entstehung dieses Genres traten Frauen in der mittelalterlichen Literatur zumeist nur als Nebenfiguren oder als Besitz ihrer Ehemänner oder Väter auf; danach nahmen sie jedoch eine zentrale Rolle ein – als klar gezeichnete Persönlichkeiten in den Werken von Autoren wie Chrétien de Troyes, Marie de France, John Gower, Geoffrey Chaucer, Christine de Pizan, Dante Alighieri, Giovanni Boccaccio und Thomas Malory.
In der Forschung ist bis heute umstritten, ob die höfische Liebesdichtung tatsächliche romantische Beziehungen des mittelalterlichen Adels widerspiegelt oder lediglich ein literarisches Konstrukt darstellt. Einige Wissenschaftler vermuten zudem, dass es sich um religiöse Allegorien mit Bezug zur Ketzerei des Katharismus handelte, dessen Anhänger – verfolgt von der Kirche – ihre Überzeugungen über populäre Dichtung verbreitet hätten. Andere wiederum deuten sie als oberflächliches Spiel der französischen Hofgesellschaft. Ein Konsens darüber, welche dieser Deutungen zutrifft, konnte bislang nicht erzielt werden. Einig ist sich die Forschung jedoch darin, dass diese Form der Dichtung im mittelalterlichen Europa beispiellos war und mit einer Idealisierung der Frau einherging. Die höfische Liebesdichtung war in ihrer Zeit äußerst populär, trug zur Entwicklung der Artuslegende bei und prägte maßgeblich die zentralen Vorstellungen westlicher romantischer Liebe.
Ursprung und Bezeichnung
Die Minne entstand im 12. Jahrhundert n. Chr. im Süden Frankreichs durch das Wirken der Troubadoure – Dichter und Sänger, die entweder an einem fürstlichen Hof angestellt waren oder von Stadt zu Stadt zogen. Der bekannteste unter den frühen Troubadouren (und nach Ansicht einiger Forscher der erste überhaupt) war Wilhelm IX., Herzog von Aquitanien (1071–1127), der Großvater von Eleonore von Aquitanien (ca. 1122–1204). Wilhelm IX. verfasste eine neue Art von Dichtung: stark sinnlich geprägt, mit Lobpreisung der Frau und romantischer Liebe. Weder er noch seine Nachfolger bezeichneten ihre Werke als höfische oder provenzalische Liebesdichtung. Für sie selbst waren ihre Werke schlicht Dichtung, auch wenn sie sich deutlich von allem unterschied, was zuvor in Westeuropa entstanden war. Die Herkunft des Begriffs erläutert die Wissenschaftlerin Leigh Smith:
Der Begriff selbst stammt erst aus dem Jahr 1883 n. Chr., als Gaston Paris die Wendung Amour courtois prägte, um Lancelots Liebe zu Guinevere im Lancelot-Roman (um 1177) von Chrétien de Troyes zu beschreiben. Die mittelalterliche Literatur selbst verwendete unterschiedliche Begriffe für diese Form der Liebe: Im Provenzalischen hieß sie cortezia (Höflichkeit, kultiviertes Verhalten), in französischen Texten spricht man von fin amour (veredelter, vollkommener Liebe), und im Lateinischen lautete der Ausdruck amor honestus (ehrenhafte, achtbare Liebe). (Lindahl et al., 80)
Die von den Troubadouren gefeierte Liebe hatte nichts mit der Ehe zu tun, wie sie von der Kirche anerkannt und gesegnet wurde, sondern war außerehelich oder vorehelich, frei gewählt – im Gegensatz zu einer Heirat, die von den gesellschaftlichen Oberen arrangiert wurde – und leidenschaftlich. Eine Ehe unter Adeligen im Mittelalter war ein gesellschaftlicher Vertrag, bei dem eine Frau einem Mann übergeben wurde, um bestimmte Interessen der beiderseitigen Eltern zu fördern – meist unter Einbeziehung von Landbesitz. Land bedeutete Macht, politisches Ansehen und Reichtum. Die Frau war in diesem Kontext kaum mehr als ein Verhandlungsobjekt wirtschaftlicher und politischer Abmachungen.
In der Welt der höfischen Liebe hingegen waren Frauen frei in der Wahl ihres Partners und übten vollständige Kontrolle über ihn aus. Ob dies eine tatsächliche gesellschaftliche Realität widerspiegelte oder lediglich ein romantisches literarisches Konstrukt war, ist bis heute Gegenstand wissenschaftlicher Debatten – und im Zentrum dieser Diskussion steht die Gestalt Eleonore von Aquitanien.
Die Königin der Minne
Wie bei vielen Aspekten der höfischen Liebe ist auch Eleonores Rolle bei der Entwicklung des Konzepts umstritten. Eleonore von Aquitanien war eine der einflussreichsten Frauen des Mittelalters, Ehefrau von Ludwig VII. von Frankreich (reg. 1137–1180) und später von Heinrich II. von England (reg. 1154–1189) sowie Mutter von Marie de Champagne (1145–1198) aus ihrer Ehe mit Ludwig, und von Richard Löwenherz (reg. 1189–1199) sowie König Johann (reg. 1199–1216) aus der Ehe mit Heinrich. Mit Heinrich II. hatte sie insgesamt acht Kinder, von denen die meisten ihrem Vorbild folgten und die Künste förderten.
Während ihrer Ehe mit Ludwig VII. (1137–1152) umgab sich Eleonore an dessen Hof mit Dichtern und Künstlern. Nach der Annullierung der Ehe im Jahr 1152 führte sie diese Praxis an ihrem eigenen Hof in der Normandie fort, wo sie insbesondere vom jungen Troubadour Bernard de Ventadour (12. Jh.) unterhalten wurde – einem der bedeutendsten Dichter des Mittelalters. Bernard folgte ihr noch im selben Jahr an den Hof von Heinrich II. und blieb dort drei Jahre lang an ihrer Seite – vermutlich als ihr Liebhaber.
Ludwig VII. vertrieb nach Eleonores Weggang die Troubadoure von seinem Hof, da er sie für einen schlechten Einfluss hielt. Heinrich II. scheint eine ähnlich geringe Meinung von den Dichtern gehabt zu haben. Eleonore hingegen bewunderte sie – und als sie sich um 1170 von Heinrich trennte und ihren eigenen Hof in Poitiers einrichtete, umgab sie sich erneut mit Künstlern. Es steht außer Frage, dass sie Bernard de Ventadour zu seinen Werken inspirierte; wahrscheinlich war sie jedoch auch für viele andere eine Inspiration. Auch über ihre Tochter Marie beeinflusste sie die bedeutendsten und wirkungsmächtigsten Werke der höfischen Liebesliteratur.
Chrétien de Troyes und Andreas Capellanus
Elenores Hof in Poitiers, ca. 1170–1174 n. Chr., ist unter heutigen Wissenschaftlern umstritten, da es keinen Konsens darüber gibt, was dort tatsächlich geschah. Einige Forscher vertreten die Ansicht, Marie de Champagne sei anwesend gewesen, andere bezweifeln dies. Manche behaupten, es habe dort tatsächliche „Höfe der Liebe“ gegeben, bei denen Eleonore, Marie und andere hochgeborene Frauen über Streitfälle in Liebesangelegenheiten entschieden hätten – Kläger und Beklagte hätten dabei Beweise zu ihren romantischen Beziehungen vorgebracht. Andere wiederum sehen in entsprechenden literarischen Darstellungen lediglich satirische Erfindungen.
Was auch immer in Poitiers tatsächlich geschah – Eleonore scheint die Grundregeln für ein literarisches Genre (und möglicherweise auch für eine Art gesellschaftliches Spiel) geschaffen zu haben, das später von ihrer Tochter weiterentwickelt wurde. Diese war die Schirmherrin des Dichters Chrétien de Troyes (ca. 1130–1190) sowie des Autors Andreas Capellanus (12. Jh.). Andreas verfasste das Werk De Amore (meist als Die Kunst der Liebe übersetzt), das die sogenannten Höfe der Liebe unter dem Vorsitz von Marie und anderen hochgestellten Damen beschreibt – zugleich aber auch als eine Art Anleitung zur Verführung gelesen werden kann.
Das Werk greift auf Ovids frühere satirische Liebeskunst (Ars Amatoria, erschienen um das 2. Jh. n. Chr.) zurück – ein Text, der sich als ernstzunehmender Ratgeber für romantische Beziehungen ausgibt, dabei jedoch ebendiese und all jene verspottet, die solche Dinge zu ernst nehmen. Da Andreas’ Werk Ovids Schrift in Aufbau und Ton stark ähnelt, vertreten einige Wissenschaftler die Auffassung, auch De Amore sei als Satire verfasst worden. Andere hingegen sehen darin einen ernst gemeinten Leitfaden für das Verhalten in der Welt der höfischen Liebe. Andreas formulierte vier Regeln der höfischen Liebe, die angeblich auf das Wirken Eleonores und Maries an ihren Höfen zurückgehen:
- Die Ehe ist keine Entschuldigung dafür, nicht zu lieben
- Wer nicht eifersüchtig ist, kann nicht lieben
- Niemand kann an zwei Lieben zugleich gebunden sein
- Liebe wächst oder schwindet – sie bleibt nie gleich
Nach diesen Regeln bedeutete die Ehe nicht, dass man außerhalb dieses Vertrags keine Liebe finden könne; Eifersucht galt als der klarste Ausdruck echter Zuneigung, da sie die Tiefe der Hingabe beweisen sollte. Zudem gebe es für jeden Menschen nur eine wahre Liebe, und niemand könne aufrichtig behaupten, zwei Personen auf dieselbe Weise zu lieben. Echte Liebe sei niemals statisch, sondern stets dynamisch, unvorhersehbar – und letztlich selbst den Liebenden nicht ganz begreifbar, da sie nicht aus eigenem Antrieb entstehe, sondern vom Gott der Liebe (Amor) initiiert und gelenkt werde. Diese Vorstellungen, die Andreas in seiner Prosaschrift entwickelte, spiegeln sich auch in den Versen Chrétien de Troyes’ wider.
Chrétien de Troyes ist der Dichter, dem einige der bekanntesten Elemente der Artuslegende zu verdanken sind – darunter Lancelots Affäre mit Guinevere sowie die Suche nach dem Gral. Zu seinen Werken zählen Erec und Enide, Cligès, Lancelot oder Der Karrenritter, Yvain oder Der Löwenritter und Perceval oder Die Geschichte vom Gral, allesamt entstanden zwischen ca. 1160 und 1190 n. Chr. Chrétien begründete die zentralen Motivstrukturen der höfischen Liebesdichtung, darunter:
- Eine schöne, aber unerreichbare Frau (verheiratet oder gefangen)
- Ein edler Ritter, der sich ihr in den Dienst stellt
- Eine verbotene, leidenschaftliche Liebe, die beide verbindet
- Die Unmöglichkeit oder Gefährlichkeit ihrer Erfüllung
Das bekannteste Beispiel dafür ist Lancelots Liebe zu Guinevere, der Ehefrau seines besten Freundes und Königs, Artus von Britannien. Lancelot kann seine Gefühle nicht verleugnen, doch er darf ihnen nicht nachgeben, ohne Artus zu verraten und Guinevere der Untreue gegenüber einem edlen König auszusetzen. In Thomas Malorys Version der Legende ist die Aufdeckung dieser Beziehung ein zentrales Ereignis, das den Zerfall der Tafelrunde einleitet. Ein weiteres bekanntes Beispiel ist die Geschichte von Tristan und Isolde von Thomas von Britannien (ca. 1173), in der der junge Tristan im Auftrag seines Onkels Mark dessen Braut Isolde zum Schloss geleiten soll. Tristan und Isolde verlieben sich – in manchen Fassungen durch einen versehentlich eingenommenen Liebestrank – und ihr Verrat an Mark bildet das tragische Zentrum der weiteren Handlung.
Auch wenn sich die Forschung weiterhin über Eleonore von Aquitanien und ihren Einfluss auf die Entstehung solcher Erzählungen uneins ist, legt bereits ein flüchtiger Blick auf ihr Leben nahe, dass die höfische Liebesdichtung wesentlich durch sie inspiriert wurde. Wie die Frauenfiguren in diesen Gedichten ließ sich Eleonore nie auf ihre Ehen reduzieren, tat stets, was ihr beliebte – abgesehen von der Zeit ihrer Gefangenschaft durch Heinrich II. – und zog die bewundernde Hingabe anderer auf sich. Eleonores Bedeutung wird umso offensichtlicher, wenn man die Theorie in Betracht zieht, dass höfische Liebesdichtung in Wirklichkeit eine religiöse Allegorie sei, die die Vorstellungen der häretischen Katharer verkörpere.
Die Katharer und die höfische Liebe
Die Katharer (vom Griechischen für „die Reinen“) waren eine religiöse Bewegung, die im 12. Jahrhundert n. Chr. im Süden Frankreichs – also genau in jenen Regionen, in denen sich auch die Höfe Eleonores und Maries befanden – große Verbreitung fand. Die Bewegung ging aus den Bogomilen in Bulgarien hervor, und ihre Anhänger wurden allgemein auch Albigenser genannt, da die Stadt Albi ihr wichtigstes religiöses Zentrum war. Die Katharer wiesen die Lehren der katholischen Kirche zurück, da sie diese als unmoralisch empfanden und den Klerus für korrupt und heuchlerisch hielten.
Der Katharismus war dualistisch geprägt – das heißt, die Welt wurde als geteilt in Gut (Geist) und Böse (Fleisch) verstanden. Die katholische Kirche galt dabei als Teil des Bösen, da ihr Klerus sich eher weltlichen Genüssen als dem geistlichen Leben widmete und ihr Dogma stärker auf die Last der Sünde als auf die Hoffnung auf Erlösung fokussierte. Die Katharer sagten sich von der Welt los, lebten in einfacher Lebensweise und widmeten sich der Hilfe für andere. Der katharische Klerus wurde als perfecti bezeichnet, die Gläubigen als credentes. Daneben gab es eine dritte Gruppe: die Sympathisanten – Menschen, die formal katholisch blieben, aber katharische Gemeinschaften unterstützten und sie vor der Verfolgung durch die Kirche schützten.
Die Kirche verdächtigte sowohl Eleonore als auch Marie, Sympathisantinnen der Katharer zu sein – ein Verdacht, der durch das Verhalten von Raimund VI., Graf von Toulouse (reg. 1194–1222 n. Chr.), Eleonores Schwiegersohn, noch verstärkt wurde. Raimund war nicht nur ein offener Unterstützer der Katharer, sondern soll auch heimlich als katharischer Bischof seiner Region gewirkt haben. Als die Kirche im Jahr 1209 n. Chr. schließlich den Albigenserkreuzzug gegen Südfrankreich einleitete, war Raimund VI. ihr eifrigster Verteidiger.
Die Verbindung zwischen dem Katharismus, Eleonore und der höfischen Liebesdichtung liegt in der auffälligen Tatsache, dass dieses literarische Genre scheinbar aus dem Nichts auftaucht – und zwar genau in der Zeit, in der der Katharismus aufblüht und Eleonore ihre Höfe unterhält. Diese Theorie, vor allem vertreten vom Gelehrten Denis de Rougemont in Die Liebe und das Abendland – L’amour et l’occident, betont, dass einer der zentralen Glaubenssätze des Katharismus die Anerkennung des weiblichen Prinzips im Göttlichen war, das sie in der Göttin Sophia (der Weisheit) verkörpert sahen. Kern der katharischen Lehre war der Dualismus – Geist gegen Materie. Laut dieser Theorie stellt die höfische Liebesdichtung eine Allegorie dar: die „Jungfrau in Not“ symbolisiert Sophia, die von der katholischen Kirche gefangen gehalten wird, während der tapfere Ritter den Katharer verkörpert, dessen Aufgabe es ist, sie zu befreien.
Die Dame symbolisierte das Gute als Geist – und deshalb durfte der Ritter seine Liebe zu ihr nie körperlich vollziehen. Die Ehe, in der sie gefangen war und die von der Kirche sanktioniert wurde, stand symbolisch für das Böse der Welt. Diese Theorie ist keineswegs allgemein anerkannt, doch es sei angemerkt, dass eine auffällige Korrelation zwischen dem Wirken der Troubadoure in Südfrankreich und der Ausbreitung des Katharismus im 12. Jahrhundert n. Chr. zu bestehen scheint.
Ein soziales Spiel
Ein weiterer Deutungsansatz, vertreten unter anderem vom Historiker Georges Duby, sieht in der höfischen Liebe ein mittelalterliches Gesellschaftsspiel, das von der Oberschicht an ihren Höfen praktiziert wurde. Duby schreibt:
Höfische Liebe war ein Spiel, ein erzieherisches Spiel. Sie war das genaue Gegenstück zum Turnier. Wie beim Turnier – dessen große Beliebtheit mit der Blütezeit höfischer Erotik zusammenfiel – setzte der adlige Mann in diesem Spiel sein Leben aufs Spiel und brachte seinen Körper in Gefahr, in der Hoffnung, sich zu vervollkommnen, seinen Wert zu steigern, seinen Preis zu erhöhen – und zugleich Vergnügen zu finden, seine Gegnerin zu erobern, nachdem er ihre Abwehr überwunden, sie vom „Sattel“ gestoßen, niedergerungen und zu Fall gebracht hatte. Höfische Liebe war eine Tjost. (57–58)
Nach dieser Theorie dient die Dame in den Erzählungen „dazu, den Eifer junger Männer anzufachen und die Qualitäten eines jeden klug und umsichtig zu prüfen. Der beste Mann war der, der ihr am besten gedient hatte“ (Duby, 62). Diese Deutung erklärt auch die misogyne Seite der höfischen Liebesdichtung: Die Frau erscheint darin als sexuelles Eroberungsobjekt, nicht als eigenständige Persönlichkeit – oder als Richterin über den Wert eines Mannes, einzig auf Grundlage ihres adeligen Standes und nicht ihrer Individualität.
Dieser Aspekt des Genres muss jedoch nicht zwingend als misogyn gewertet werden, sondern lässt sich auch idealistisch deuten. Wenn die höfische Liebe ein von Frauen erfundenes Spiel war, dann hätten sowohl die Frau als Preis als auch die Frau als Richterin demselben Ziel gedient: der Erhöhung ihres gesellschaftlichen Status. Andere Forscher haben darauf hingewiesen, dass es noch bis in die Renaissance hinein höfische Spiele im Adel gab, die einer Art Rollenspiel entsprachen, und dass die von Andreas Capellanus beschriebenen „Höfe der Liebe“ keine echten Gerichtshöfe, sondern lediglich Spiele waren, die sich adlige Damen zur Unterhaltung ausdachten. Die Werke von Andreas, Chrétien und anderen hätten demnach einfach zur Unterhaltung beigetragen oder als Regelwerke gedient. Leigh Smith schreibt dazu:
Wie bei jedem Spiel, das auf der Erschaffung einer alternativen Wirklichkeit beruht, hängt der Spaß daran davon ab, dass alle Beteiligten diese Wirklichkeit mit äußerstem Ernst behandeln. In diesem Sinne lässt sich Andreas’ Traktat möglicherweise als Leitfaden verstehen, wie man sich als erfolgreicher Höfling an einem solchen Hof der Liebe verhalten sollte. (Lindahl et al., 82)
Der Sieger in diesem Spiel war jener Ritter, der die Tugenden der Ritterlichkeit und Höflichkeit im Dienst seiner Dame am vollkommensten verkörperte. Es ist denkbar, dass diese Spiele sich über Monate hinweg erstreckten – vielleicht war genau das der Fall an Eleonores Hof in Poitiers um 1170 bis 1174 – doch dies allein vermag weder die Leidenschaft der Dichtungen noch die Hingabe des Ritters an seine Dame oder deren anhaltende Popularität vollständig zu erklären. Am wichtigsten aber ist: Diese Theorie beantwortet nicht hinreichend die Frage, warum Frauen, selbst wenn sie das Spiel erfunden haben sollten, in diesem Genre plötzlich derart hervorgehoben wurden – in einem Ausmaß, das in der europäischen Literatur zuvor beispiellos war.
Resümee
Das Genre galt bei Gelehrten des 19. und 20. Jahrhunderts n. Chr. als völlig neuartig – obwohl sie das zentrale Motiv der Erhöhung der Dame in manchen römischen Werken und im biblischen Hohelied durchaus erkannten, hatten sie doch kaum oder gar keine Kenntnis von der Literatur des alten Mesopotamien und Ägyptens. Wie bereits erwähnt, wurde der Begriff höfische Liebe erst 1883 n. Chr. vom französischen Schriftsteller Gaston Paris geprägt; eine vollständige konzeptionelle Ausarbeitung erfolgte erst 1936 n. Chr. durch C. S. Lewis in dessen Werk The Allegory of Love.
Beide Autoren schrieben zu einer Zeit, in der das Verständnis ägyptischer Hieroglyphen (im Fall von Paris) und mesopotamischer Keilschrift (Lewis) noch in den Kinderschuhen steckte. Viele Werke beider antiker Kulturen waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht übersetzt worden – am bekanntesten darunter Das Liebeslied für Shu-Sin (ca. 2000 v. Chr.) aus Sumer, das als ältestes Liebesgedicht der Welt gilt und erst 1951 n. Chr. von Samuel Noah Kramer übersetzt wurde. Bereits übersetzte Werke wurden zudem meist nur in anthropologischen Fachkreisen bekannt gemacht und fanden wenig öffentliche Beachtung.
Dementsprechend interpretierten Autoren wie Paris und Lewis die Literatur der höfischen Liebe als etwas noch nie Dagewesenes in der Weltliteratur, obwohl sie es in Wahrheit nicht war – sie war lediglich neu für das mittelalterliche Europa. Sowohl die ägyptische als auch die mesopotamische Kultur schätzten Frauen hoch, und ihre Literatur zeugt davon. Irgendwie gelang es jedoch – sei es durch religiöse Allegorie, Rollenspiel oder einfach durch die Bemühungen einer einzelnen Frau – den Dichtern Südfrankreichs, ganz ohne Kenntnis der leidenschaftlichen Dichtung Mesopotamiens oder Ägyptens, eine ähnliche Literatur hervorzubringen – und das in einer Kultur, die ein solches Frauenbild eigentlich nicht unterstützte. Frauen wurden im Großteil des Mittelalters durchweg entwertet und abgewertet – doch in der Dichtung der höfischen Liebe herrschten sie uneingeschränkt.