Mittelalterliche Literatur

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Joshua J. Mark
von , übersetzt von Marie-Theres Carl
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Dante Alighieri by Signorelli (by Georges Jansoone, CC BY-SA)
Dante Alighieri von Signorelli
Georges Jansoone (CC BY-SA)

Mittelalterliche Literatur wird im weiteren Sinne als jede zwischen ca. 476 und 1500 verfasste Schrift in Latein oder der Landessprache verstanden, darunter philosophische, religiöse und juristische Abhandlungen ebenso wie fiktionale Werke. Im engeren Sinne bezeichnet der Begriff jedoch literarische Werke in der Volkssprache – darunter Poesie, Dramen, Romanzen, epische Prosa und Geschichtsschreibung – wobei einige historische Texte auch in Latein verfasst wurden.

Auch wenn es merkwürdig erscheinen mag, dass Geschichtsschreibungen zusammen mit fiktionalen Formen genannt werden, sollte man bedenken, dass viele „Geschichten“ des Mittelalters Elemente von Mythos, Fabel und Legende enthalten – und in manchen Fällen weitgehend das Werk fantasievoller Autoren waren.

Sprache und Publikum

Literarische Werke wurden ursprünglich auf Latein verfasst, doch begannen Dichter bereits im 7. Jahrhundert in der jeweiligen Alltagssprache des Volkes zu schreiben. In Britannien wurde Literatur in der Volkssprache insbesondere im Königreich Wessex durch Alfred den Großen (reg. 871–899) weiter verbreitet, der damit eine breitere Alphabetisierung fördern wollte – andere Regionen folgten seinem Beispiel.

Die mittelalterliche volkssprachliche Literatur entwickelte sich aus dem Volksmärchen – vermutlich führte der Erzähler die verschiedenen Rollen vor Publikum auf.

Die normannische Eroberung Englands 1066 machte Französisch zur Sprache der Literatur und wandelte das Englische von Altenglisch (ca. 500–1100) zu Mittelenglisch (ca. 1100–1500). Die in beiden Epochen entstandenen Erzählungen basierten ursprünglich auf mittelalterlicher Folklore, also mündlich überlieferten Geschichten – und da ein Großteil der Bevölkerung nicht lesen konnte, wurden Bücher weiterhin einem Publikum vorgelesen. Der auditive Aspekt der Literatur beeinflusste somit ihre Gestaltung: Autoren schrieben ihre Werke für eine Aufführung, nicht für das stille Lesen in der Einsamkeit.

Die Alphabetisierungsrate stieg im 15. Jahrhundert, und mit der Erfindung des Buchdrucks wurden Bücher verfügbarer. Das Lesen als persönliche Freizeitbeschäftigung verbreitete sich zunehmend – und damit veränderte sich auch die Art des Schreibens. Thomas Malorys Le Morte D’Arthur (verfasst 1469, veröffentlicht 1485) gilt als der früheste Roman im Westen: ein Werk, das sich an ein individuelles Lesepublikum richtete und mit persönlichen Bedeutungsebenen und Symbolik arbeitete – und damit den Grundstein für die Entwicklung des Romans in seiner heutigen Form legte.

Frühe Entwicklung

Mittelalterliche Literatur entwickelte sich auf natürliche Weise aus dem Volksmärchen – einer Erzählung, die vor Publikum vorgetragen wurde, wobei der Erzähler vermutlich verschiedene Rollen spielte. Die mittelenglische Literatur beginnt mit Beowulf (7.–10. Jahrhundert), einer Geschichte, die zweifellos schon viel früher bekannt war und zunächst mündlich überliefert wurde, bevor sie niedergeschrieben wurde. Dieses Entwicklungsmuster gilt auch für die Literatur anderer Länder: Der Erzähler versammelte ein Publikum und führte seine Geschichte auf, meist mit Variationen je nach Zuhörerschaft, und Mitglieder dieses Publikums erzählten die Geschichte anschließend weiter.

Wiglaf & Beowulf
Wiglaf und Beowulf
J.R.Skelton (Public Domain)

Die frühesten schriftlichen Werke der mittelalterlichen Literatur sind größtenteils Legenden oder Volksmärchen, die nun nicht mehr mündlich erzählt, sondern zu Papier gebracht wurden – doch der Erzähler musste sein Publikum nach wie vor gewinnen und fesseln. Deshalb schrieb man in der Volkssprache, um verstanden zu werden, und im Versmaß, um besser im Gedächtnis zu bleiben. Dichtung mit ihrem regelmäßigen Rhythmus prägt sich weit besser ein als Prosa. Die Poesie blieb daher über weite Teile des Mittelalters das bevorzugte Ausdrucksmittel der Kunst.

Lateinische Prosa war – mit einigen herausragenden Ausnahmen – religiösen und gelehrten Leserkreisen vorbehalten. Wer sich unterhalten oder dem Alltag entfliehen wollte, hörte einem Erzähler zu, der aus einem guten Versbuch vorlas. Lyrik, Balladen und Hymnen waren selbstverständlich Gedichte, aber auch die großen höfischen Liebesromane, die Traumdichtung der Hochromantik, epische Dichtungen sowie die französischen und bretonischen Lais (kurze Erzählgedichte) wurden in Versform geschrieben.

Anfangs waren mittelalterliche Schriftsteller anonyme Schreiber, die Geschichten niederschrieben, die sie gehört hatten. Originalität im Schreiben galt – wie schon in der Antike – nicht als besonderer kultureller Wert, und die frühen Autoren hielten es nicht für notwendig, ihre Werke zu unterzeichnen. Die tatsächlichen Namen vieler der bekanntesten Schriftsteller des Mittelalters sind bis heute unbekannt. Marie de France ist nicht der wirkliche Name der Verfasserin der berühmten Lais – es handelt sich um ein Pseudonym –, und der Name Chrétien de Troyes bedeutet übersetzt lediglich „ein Christ aus Troyes“ und könnte fast jeden bezeichnen. Erst im 13. und 14. Jahrhundert begannen Autoren, unter ihrem eigenen Namen zu schreiben. Ob bekannt oder anonym – diese Schriftsteller schufen einige der größten Werke der Literaturgeschichte.

Andere Formen der Literatur

Weitere literarische Formen neben der Dichtung waren:

  • Dramen,
  • Geschichtsschreibung und
  • Fabeln

Dramen im Mittelalter war im Wesentlichen ein Lehrmittel der Kirche. Moralische, mysteriöse und liturgische Stücke sollten ein analphabetisches Publikum zu akzeptablem Denken und Verhalten anleiten. Heilsgeschichtliche Werke, die das Leiden, die Kreuzigung und Auferstehung Jesu Christi nachstellten, waren beliebte Osteraufführungen, während Lehrstücke das ganze Jahr über gezeigt wurden. Das bekannteste Stück dieser Gattung ist Everyman (um 1495), das die Geschichte eines Mannes erzählt, der dem Tod gegenübersteht und niemanden findet, der ihn auf dem Weg ins Jenseits begleitet – außer seinen guten Taten. Diese Allegorie entwickelte sich aus einer früheren lateinischen Literaturform, der ars moriendi (Kunst des Sterbens), die Anleitungen gab, wie man ein gutes Leben führt und sich des Himmels sicher sein kann.

Geschichtstexte des Frühmittelalters (476–1000) stützten sich häufig auf Fabeln und Mythen, um ihre Erzählungen auszuschmücken und weiterzuentwickeln. Die Werke britischer Autoren wie Gildas (500–570), Beda Venerabilis (673–735) und Nennius (9. Jahrhundert) enthalten durchweg mythische Elemente und geben Fabeln als Tatsachen wieder. Das bekannteste Beispiel hierfür ist Geoffrey von Monmouths Historia Regum Britanniae (Geschichte der Könige Britanniens) aus dem Jahr 1136, verfasst in Latein. Geoffrey behauptete, ein altes historisches Werk zu übersetzen, das er kürzlich entdeckt habe – in Wirklichkeit entsprang jedoch der Großteil seiner „Geschichte“ seiner eigenen Fantasie, ergänzt durch Passagen aus älteren Chroniken, die sich in seine Erzählung einfügen ließen. Seine visionäre Darstellung der frühen Könige Britanniens dreht sich vor allem um die Gestalt des heldenhaften Arthur – weshalb Geoffrey von Monmouth heute als Begründer der Artuslegende gilt.

Geoffrey of Monmouth
Geoffrey von Monmouth
ndl642m (CC BY-NC-ND)

Fabeln erzählten fast immer von vermenschlichten Tieren, um eine moralische Lehre zu vermitteln, menschliche Schwächen satirisch zu beleuchten oder bestimmtes Verhalten zu fördern. Der bekannteste und einflussreichste Fabelzyklus waren die Geschichten um Reineke Fuchs (ab dem 12. Jahrhundert), dessen Abenteuer ihn regelmäßig mit dem Wolf Isegrim aneinandergeraten ließen. Reineke ist ein listiger Betrüger, der sich mit Klugheit aus brenzligen Situationen rettet oder sich einen Vorteil verschafft.

In einer Geschichte mit dem Titel How Reynard Fought Isengrim the Wolf (Wie Reineke gegen Isegrim den Wolf kämpfte) fordert Isegrim Reineke zu einem Duell auf Leben und Tod heraus, um sich die Gunst des Königs zu sichern. Reineke weiß, dass er im offenen Kampf keine Chance hat, doch kann er die Herausforderung nicht ablehnen. Also bittet er seine Tante um Hilfe: Sie schert ihm das Fell ab und reibt ihn mit glitschigem Fett ein. Am Ende siegt Reineke, weil der Wolf ihn nicht zu fassen bekommt. Die Fabel schließt mit Reinekes Auszeichnung durch den König. Wie in vielen Fabeln triumphiert der Schwächere trotz aller Widrigkeiten – ein Motiv, das Reinekes Geschichten und ähnliche Erzählungen besonders beliebt machte.

Gedichtformen und bedeutende Werke

Dennoch waren die beliebtesten und einflussreichsten Werke jene, die in Versform erzählt wurden. Das früheste bekannte Gedicht in englischer Sprache stammt aus dem 7. Jahrhundert und ist Caedmon's Hymn (Caedmons Hymne), ein schlichter Lobgesang auf Gott, verfasst von einem analphabetischen Hirten, dem der Text in einer Vision vorgesungen wurde. Sein Lied wurde in Altenglisch von einem namenlosen Schreiber in der Abtei Whitby in Northumbrien niedergeschrieben und erstmals in den Schriften Bedas überliefert. Die schlichte Schönheit dieses frühen Verses wurde zum stilprägenden Vorbild altenglischer Dichtung – wie Werke wie The Dream of the Rood (Der heilige Kreuz, eine Traumvision aus dem 7. Jahrhundert) und später The Battle of Maldon (Die Schlacht von Maldon, spätes 10. Jahrhundert) zeigen.

Zwischen diesen beiden Werken entstand das epische Meisterwerk Beowulf, das denselben Rhythmus der alliterativen Langzeile nutzt, um die Handlung voranzutreiben und die Erzählung im Gedächtnis des Publikums zu verankern. Diese Versform entfaltet ihre Wirkung bis heute, denn Rezitationen und Aufführungen von Beowulf erfreuen sich nach wie vor großer Beliebtheit. Die Geschichte handelt von einem einsamen Helden, der sich einem finsteren Ungeheuer stellt und es besiegt – ein Motiv, das von der Antike bis in die Gegenwart ungebrochene Anziehungskraft besitzt.

Chrétiens Gedichte über eine Jungfrau in Not und den tapferen Ritter erfreuten sich großer Beliebtheit und trugen wesentlich zur Entwicklung der Legende von König Artus bei.

Ein späteres französisches Werk, La Chanson de Roland (Das Rolandslied, 11. Jahrhundert), ist ein weiteres Epos, das dasselbe Thema behandelt. In diesem Fall erhält das „Monster“ jedoch menschliche Gestalt in Form der Sarazenen, die das christliche Leben und die Kultur bedrohen. Roland, der große Ritter Karls des Großen, wird schließlich beauftragt, den Pass von Roncesvalles gegen den vorrückenden Feind zu verteidigen, und opfert sein Leben, um seinen König, sein Land und seine Gefährten vor den Invasoren zu schützen. Das Gedicht war so beliebt, dass es der Überlieferung nach von den normannischen Truppen zur Stärkung ihrer Moral während der Schlacht bei Hastings im Jahr 1066 gesungen wurde.

Romanzen, die bei der europäischen Aristokratie großen Anklang fanden, begannen im 12. Jahrhundert im Süden Frankreichs aufzublühen. Chrétien de Troyes (um 1130 – um 1190), Hofdichter von Marie von Champagne (1145–1198), ist der bekannteste der romantischen Dichter und zweifellos einer der einflussreichsten. Chrétiens Gedichte über die Jungfrau in Not und den tapferen Ritter, der sie retten muss, erfreuten sich großer Beliebtheit und trugen maßgeblich zur Entwicklung der Artuslegende und der Tafelrunde bei, die später von Malory in ihrer endgültigen Form ausgearbeitet wurde.

Das Genre der Romanze – ob in Vers- oder Prosaform – beruht auf der Vorstellung, dass wahre Liebe entweder unerreichbar ist oder nicht von Dauer sein kann. Am Ende der Geschichte stirbt einer der Liebenden oder beide müssen sich trennen. Ein „Happy End“, wie es in der volkstümlichen Erzähltradition des Mittelalters verbreitet war, findet sich am Schluss einer schriftlich fixierten mittelalterlichen Romanze nur selten. Manche Forscher führen dies darauf zurück, dass die romantische Literatur der höfischen Liebe eine verschlüsselte „Schrift“ der Katharer gewesen sei – einer von der mittelalterlichen Kirche verfolgten, als häretisch eingestuften religiösen Bewegung. Die Katharer („die Reinen“, vom griechischen katharoi) betrachteten sich selbst als wahre Gläubige und verehrten ein weibliches göttliches Prinzip namens Sophia (Weisheit), das in mehrfacher Hinsicht der Jungfrau Maria ähnelte.

Laut einer wissenschaftlichen Theorie, die die Katharer mit der mittelalterlichen Romanze in Verbindung bringt, steht die „Jungfrau in Nöten“ symbolisch für Sophia, während der tapfere Ritter den katharischen Gläubigen verkörpert, der sie vor Gefahr – sprich: der Kirche – beschützen muss. Zwei der einflussreichsten Frauen des Mittelalters, Marie von Champagne und ihre Mutter Eleonore von Aquitanien (um 1122–1204), wurden beide mit der katharischen Häresie in Verbindung gebracht und traten zugleich als Mäzeninnen jener Dichter auf, die die Romanzen schufen – darunter Chrétien de Troyes, Andreas Cappellanus und mit großer Wahrscheinlichkeit auch Marie de France. Insofern lässt sich diese Deutung zumindest in Teilen historisch untermauern.

Ob die Romanzen nun allegorische Werke waren oder nicht – ihre Aufwertung der Frau in der fiktiven Welt des ritterlichen Helden beeinflusste zumindest in den oberen Gesellschaftsschichten auch das Frauenbild im Alltagsleben. Das Genre wurde im 12. und 13. Jahrhundert von Dichtern wie Robert de Boron, Béroul und Thomas von Britannien sowie von den großen deutschen Autoren Wolfram von Eschenbach (1170–1220) und Gottfried von Straßburg (um 1210) weiterentwickelt, die alle wesentliche Elemente zur Artuslegende beitrugen.

Canterbury Tales
Die Canterbury-Erzählungen
SkedO (Public Domain)

Bis zum 14. Jahrhundert jedoch hatte sich die mittelalterliche Vorstellung von der Frau als Eigentum weitgehend zugunsten eines neuartigen Frauenbildes gewandelt – der Frau als eigenständiger Persönlichkeit. Berühmt verkörpert wird dieses Ideal von Geoffrey Chaucers Figur der Frau aus Bath in den Canterbury Tales (Die Canterbury-Erzählungen). Bereits bei Chrétien de Troyes treten im 12. Jahrhundert starke Frauenfiguren auf – am bekanntesten ist Guinevere im Versroman Lancelot ou le Chevalier de la Charrette (Lancelot oder Der Karrenritter) – doch die Frau aus Bath ist eine deutlich rundere, vollständiger gezeichnete Figur, deren Anlage ebenso stark von den französischen fabliaux (kurze Schwänke in Versform) wie von den Romanzen oder den Volkserzählungen geprägt ist.

Die Verherrlichung des Weiblichen erreichte ihren Höhepunkt in der Lyrik Petrarcas (1304–1374), dessen Sonette an die Gestalt der Laura bis heute nachwirken. Petrarcas Werk war zu seinen Lebzeiten derart beliebt, dass es nicht nur das gesellschaftliche Bild von Frauen prägte, sondern das Menschenbild insgesamt beeinflusste – weshalb er häufig als erster Autor des Humanismus bezeichnet wird.

Während Romanzen unterhielten und zugleich belehrten, verfolgte ein anderes Genre das Ziel, zu erheben und zu trösten: die hochmittelalterliche Traumvision. Traumvisionen sind Dichtungen, in denen ein Ich-Erzähler einen Traum schildert, der in Zusammenhang mit einer persönlichen Notlage steht. Die bekanntesten Werke dieser Gattung sind The Pearl (Die Perle) eines unbekannten Autors, Piers Plowman (Piers der Pflüger) von William Langland und The Book of the Duchess (Das Buch der Herzogin) von Geoffrey Chaucer – allesamt aus dem 14. Jahrhundert. Typisch für das Genre ist eine Rahmenerzählung, in der zunächst das Problem des Erzählers geschildert wird, daraufhin der eigentliche Traum folgt, und schließlich zur realen Lebenssituation zurückgeführt wird.

In The Pearl trauert der Erzähler um den Verlust seiner Tochter, träumt von ihrem neuen Leben im Himmel – sicher und glücklich – und erwacht schließlich versöhnt mit dem Verlust seiner „kostbaren Perle ohne Preis“. Der Schmerz des Vaters wird gelindert, da Gott ihm gewährt, zu sehen, wohin seine Tochter gegangen ist, und dass sie nicht aufgehört hat zu existieren, sondern lediglich ein neues, helleres Zuhause gefunden hat. Auch Piers Plowman offenbart dem Träumer – einem Mann namens Will – die Güte und Liebe Gottes. In seinen Träumen begegnet er dem guten Pflüger Piers, einer Christusfigur, die ihm zeigt, wie er ein besseres Leben führen kann.

Chaucers Book of the Duchess (sein erstes größeres Langgedicht, um 1370) löst sich vom religiösen Thema und widmet sich ganz dem Schmerz des Verlusts und der Frage, wie man mit diesem weiterlebt. In dem Werk wurde der Erzähler von seiner wahren Liebe verlassen und findet seit Jahren keinen Schlaf. Beim Lesen eines Buches über zwei Liebende, die durch den Tod getrennt wurden, schläft er schließlich ein und träumt von einem schwarzen Ritter im Wald. Dieser erzählt ihm von seiner eigenen großen Liebe, ihrem gemeinsamen Glück – und schließlich von seinem Leid: Seine Frau ist gestorben. Das Gedicht greift damit eine zentrale Frage der höfischen Liebesromane auf: Ist es besser, den geliebten Menschen durch den Tod oder durch Untreue zu verlieren? Der Erzähler beantwortet diese Frage nicht. Als er aus dem Traum erwacht, teilt er dem Leser lediglich mit, er sei so beeindruckt gewesen, dass er den Traum aufschreiben werde – die Interpretation bleibt dem Leser überlassen.

Dante, Florence Cathedral
Dante, Kathedrale von Florenz
Vitosmo (CC BY-NC-SA)

Die mittelalterliche Traumvision erreicht ihren Höhepunkt in Dante Alighieris Divina Commedia (Die Göttliche Komödie, 14. Jahrhundert), in der der Dichter auf eine Reise durch Hölle, Fegefeuer und Paradies geführt wird, um vom falschen Weg abzukehren und die Wahrheit der christlichen Lehre zu erkennen. Divina Commedia ist streng genommen keine Traumvision – der Erzähler behauptet nie, eingeschlafen zu sein oder dass das Erlebte ein Traum sei – doch Dante bedient sich klarer Merkmale dieses Genres, um seine Geschichte zu erzählen. So sehr spiegelt Divina Commedia in Aufbau, Ton und Wirkung die klassische Traumvision des Hochmittelalters wider, dass sie von Zeitgenossen – und sogar von Dantes eigenem Sohn – als Traum gedeutet wurde.

Resümee

Obwohl die Dichtung auch im Spätmittelalter ein beliebtes Medium blieb, wandten sich immer mehr Autoren der Prosa zu – unter ihnen auch eine Reihe bedeutender Frauen. Christliche Mystikerinnen wie Juliana von Norwich (1342–1416) und Katharina von Siena (1347–1380) beschrieben ihre Visionen in Prosatexten, und Margery Kempe (1373–1438) ließ ihre Offenbarungen von einem Schreiber aufzeichnen. Eine der bekanntesten Schriftstellerinnen des Mittelalters, Christine de Pizan (1364 – ca. 1430), verfasste ihre einflussreichen Werke ebenfalls in Prosa, ebenso wie der große italienische Dichter und Künstler Giovanni Boccaccio (1313–1375), der vor allem für sein Meisterwerk Decamerone (Dekameron) bekannt ist.

Die Artuslegende, die sich ab dem 12. Jahrhundert entwickelte, wurde zwischen 1215 und 1235 im sogenannten Vulgata-Zyklus in Prosaform niedergeschrieben und in der überarbeiteten Fassung des Post-Vulgata-Zyklus (ca. 1240–1250) weitergeführt, der wiederum die Grundlage für Malorys Werk bildete. Sein Le Morte D'Arthur (Der Tod Arthurs) fasste die Artuslegende zusammen, wurde von späteren Autoren erweitert und neu interpretiert – und wirkt bis heute nach.

Auch wenn in der Forschung weiterhin darüber diskutiert wird, welches Werk genau als erster englischer Roman gelten darf, zählt Malorys Werk stets zu den aussichtsreichsten Kandidaten. William Caxton, Malorys Verleger, war einer der ersten, die von der neuen Druckerpresse profitierten, die Johannes Gutenberg um 1440 erfunden hatte. Gutenbergs Erfindung stellte sicher, dass die mittelalterliche Literatur – größtenteils anonym und frei verfügbar – überliefert wurde und so spätere Lesergenerationen beeinflussen konnte.

Fragen und Antworten

Was ist mittelalterliche Literatur?

Mittelalterliche Literatur ist jedes literarische Werk, das in der Regel in der Volkssprache zwischen etwa 476 und 1500 verfasst wurde, obwohl es sich manchmal auch auf historische, philosophische oder religiöse Werke bezieht.

Wie hat sich die mittelalterliche Literatur entwickelt?

Die mittelalterliche Literatur entwickelte sich zunächst aus dem mittelalterlichen Volksmärchen, bevor die Autoren begannen, eigene Werke zu verfassen.

Welche Formen der mittelalterlichen Literatur gab es und welche war die früheste?

Die Formen der mittelalterlichen Literatur waren Poesie, Drama, Geschichten und Fabeln. Die früheste Form war die Poesie.

Welches sind einige berühmte Werke der mittelalterlichen Literatur?

Berühmte Werke der mittelalterlichen Literatur sind unter anderem Dantes Göttliche Komödie, Die Canterbury-Erzählungen von Chaucer, Das Dekameron von Boccaccio und Le Morte D'Arthur von Malory.

Literaturverzeichnis

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Übersetzer

Marie-Theres Carl
Marie ist Redakteurin und angehende Journalistin mit einer Leidenschaft für Storytelling, die Germanistik und Politikwissenschaft studiert. Sie interessiert sich besonders für digitale Medien, Bildung sowie das Zusammenspiel von Sprache und Kommunikation.

Autor

Joshua J. Mark
Joshua J. Mark ist Mitbegründer der WHE und ehemaliger Professor am Marist College in New York, wo er Geschichte, Philosophie, Literatur und Schreiben unterrichtet hat. Er ist weitgereist und hat in Griechenland und Deutschland gelebt.

Dieses Werk Zitieren

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Mark, J. J. (2019, März 20). Mittelalterliche Literatur [Medieval Literature]. (M. Carl, Übersetzer). World History Encyclopedia. Abgerufen auf https://www.worldhistory.org/trans/de/1-17990/mittelalterliche-literatur/

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Mark, Joshua J.. "Mittelalterliche Literatur." Übersetzt von Marie-Theres Carl. World History Encyclopedia. Letzte März 20, 2019. https://www.worldhistory.org/trans/de/1-17990/mittelalterliche-literatur/.

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Mark, Joshua J.. "Mittelalterliche Literatur." Übersetzt von Marie-Theres Carl. World History Encyclopedia. World History Encyclopedia, 20 Mär 2019, https://www.worldhistory.org/Medieval_Literature/. Internet. 26 Jun 2025.